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"Der Schneebesen und das Ich"

"Sei deine eigene Chairperson" - so lautete der Titel für die Werkstatt in Meißen im September 2023. Sie wurde als "musikalisch-experimentelle Annährung an die TZI" angekündigt. In diesem Bericht lesen Sie, wie Ulrike Lewark es wahrgenommen hat:

 

An einem strahlenden, tiefblauen Septembersamstag treffen sich auf dem Meißner Burgberg Menschen, die ihrem Ich, ihrer Chairperson auf der Spur sind. Friedemann Stolte, Musiker, Komponist und TZI-Diplomierter, lädt ein zur TZI-Werkstatt „Sei Deine eigene Chairperson - eine musikalisch-experimentelle Annäherung“, und zwei Dutzend TeilnehmerInnen sind seiner Einladung gefolgt.

Zum zweiten Mal in diesem Jahr nehme ich als neues Mitglied des RCI Berlin/ DeutschlandOst an der Meissner Werkstatt teil; mich locken die Burg, die Themen und ihre Umsetzung mit anderen, mich locken die Begegnungen. Freudig betrete ich den Propstei-Saal, sehe mir schon bekannte wie neue Gesichter und – welche Überraschung – ein reich gedecktes großes Frühstücksbuffet. Das freilich entpuppt sich sehr schnell als ein Buffet für Resonanzkörper und Schlaginstrumente: Pfannen, Salatschüsseln, Tonbecher, Kehrichtschaufeln, Handfeger, Handreiben, Klöppel, Löffel. Damit also werden wir heute arbeiten!

Und wir beginnen bereits in der Einstiegsrunde mit der Arbeit mit den Objekten: mein ICH ist aktiviert, mit Lust wähle ich meine Edelstahlschüssel und einen Klöppel, um mich damit und wenigen Worten in der Einstiegsrunde vorzustellen nach dem Impuls: Was nehme ich und was gebe ich? Warum habe ich das (diese Objekte) gewählt? Auf welche Weise hat es mit meiner Chairperson zu tun? Erstaunlich, wie viel wir übereinander bereits in der ersten Runde erfahren und wie viel Nähe entsteht.

Die anschließende Erläuterung Friedemanns zum Begriff der Chairperson nach Ruth Cohn führt uns zu den vielfältigen inneren Stimmen, die in uns toben, singen, flüstern, schreien, sich Gehör verschaffen wollen. Welchen für mich typischen Ausdruck meiner inneren Stimmen finde ich auf den vielen kleinen Zetteln, die uns Friedemann anbietet und in die Mitte auf dem Fußboden auslegt? Vielleicht: „Aber da muss man doch helfen!“ oder treffender „Ich habe keine Lust mehr“, „Jetzt ist aber Schluss“, „darauf freue ich mich“ oder „Wird mir alles zu viel“? Wir erkunden unsere inneren Stimmen hat Friedemann diesen Schritt genannt. Ich wähle, was bei mir ganz obenauf liegt: „Da mache ich nicht mit“, weil für mich momentan Abgrenzung dran ist, bzw. meine eigene Erlaubnis, Raum für mich zu schaffen und zu erhalten.

Nun tönen wir mit unseren Klangkörpern und unseren Schlaginstrumenten „unseren“ Satz, wir suchen zu uns passende Ausdrücke und Stimmungslagen, wir tönen und sprechen, hören auf andere TeilnehmerInnen, finden einen gemeinsamen Rhythmus. Was löst das aus? Bringt mich mein Satz „Da mache ich nicht mit!“ aus meiner kleinen Gruppe? Muss ich dann ge-hen? Wohin? Oder gäbe es „Zwischentöne“ auf meiner Schüssel, auf die vielleicht die Käsereibe antwortet und mich wieder reinholt? Was wirkt wie? Wer hört wen? Wer ist leise und still, wer lärmend und was macht den Unterschied?

Schnell wird klar: mit unseren Ressonanzobjekten bewirken wir ganz Ähnliches wie mit Körpersprache oder Sprache. Diese geniale Idee, meine Aussage mit einem Instrument zu verbinden, aktiviert mein Unbewusstes und bringt mich vom Kopf in den Bauch.

An diesen beiden Linien entlang entwickelt sich nun unser Prozess: einerseits die Eigenverantwortung, meine Selbst-Leitung, die Chairperson mit den „Musik“-Instrumenten auszudrücken und in der Begegnung zu erfahren, was das bei mir und den anderen auslöst. Und andrerseits die Vorstellung der vielfältigen inneren Stimmen, die auf mich einreden, mit denen ich meine Entscheidungen und Handlungen „berate“. Diese inneren Stimmen hat Friedemann Schulz von Thun „Das innere Team“ genannt. Es ist ein Bild, ein Modell dafür, wie die Chairperson verantwortlich entscheidet, wie aus „du solltest“ und „vergiss nicht...“ oder „ich müsste eigentlich“ – wie aus all diesen Stimmen das eine „Ich will“ wird, meine Entscheidung.

Unser Prozess führt uns so Schritt für Schritt mit aufeinander aufbauenden Übungen und einem theoretischen Impuls über Schulz von Thun hin zum Höhepunkt für jeden Musiker: der Aufführung, dem Konzert. Das Thema jetzt: „Ich agiere im Inneren Team. Welche Interaktionen nehme ich wahr? Wie erlebe ich mich im Zusammenspiel?“ Eine Teilnehmerin findet sich, die ihr Inneres Team zu ihrem Satz vom Vormittag dirigieren will. Sie sucht sich Mitspieler für die Stimmen, die bei diesem Satz auf sie einreden, und wählt für jede Stimme das passende Instrument. Dann dirigiert die Protagonistin ihre inneren Stimmen zu ihrem Satz, ausgedrückt nur durch das Rascheln von Zeitungspapier, dem Klirren einer Kehrschaufel oder den harten Schlägen auf eine Holzkiste. Großartig!

In der anschließenden Reflektion wird deutlich, wie intensiv von allen die drei Minuten dieser Aufführung erlebt wurden – nonverbal, nur mit Tönen und Geräuschen. Und es stellt sich heraus, wie evident das Verhalten der Dirigentin war: durch Klarheit, bestimmtes Auftreten, ihr aufmerksames Zuhören. Niemals ließ sie sich die Steuerung wegnehmen: Eine sichtbare Chairperson!

Im Gegensatz zu den Gruppen, die ich beruflich erlebt habe und in denen ich mich im Moment bewege, nämlich in meiner Hausgruppe der Genossenschaft und in einem Kurs des Europäischen Hochschulverbandes, war an diesem Samstag nicht einer/eine am Handy, alle waren jederzeit aktiviert, Nähe (WIR) wurde hergestellt bei gleichzeitiger Konzentration auf das ICH. Zum ES, zum formulierten und dadurch leitenden Thema, wurde Zugang ermöglicht. Lebendig gelernt haben wir halt. Ich habe in meiner ganzen Laufbahn keine Alternative gefunden, Gruppen zu leiten als mit dem Vierfaktorenmodell und den Postulaten von Ruth Cohn. Friedemann Stolte ist es bestens gelungen, für mich ICH mit THEMA und WIR zu verbinden.

Zufrieden, erfüllt und vergnügt laufe ich zu meinem Zug, der mich zurückbringt nach Berlin und zu meinem dortigen neuen TZI- und sonstigen Leben. Ich wünsche mir mehr Nachwuchs für die TZI!!!!! Die Gruppen sind schon sehr grauhaarig, und dazu gehöre ich ja auch.

Mein Dank gilt den Organisatoren und unserem Leiter Friedemann Stolte.

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